Beratung im Diskurs

Erste Frankfurter Erklärung zur Beratung Januar 2001

Aufruf zu einem Neuen Diskurs
Forum Beratung in der DGVT

Mit der Frankfurter Erklärung ruft das Forum Beratung in der DGVT zu einem Neuen Diskurs über Beratung auf.
Ausgehend von einer interdisziplinären Perspektive, die psychologisches, pädagogisches und soziologisches Wissen unter einer kulturellen und zeitreflexiven Sichtweise vereint, sind alle an Beratung Interessierte zu einer gemeinsamen Weiterentwicklung von Beratung in Deutschland eingeladen.

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Warum ein Neuer Diskurs über Beratung?

Eine Welt im Wandel braucht Beratung, aber eine Beratung, die diesem Wandel Rechnung trägt!

  • Unsere Lebens- und Arbeitswelten verändern sich gegenwärtig in dramatischer Form. Bisher tragfähige Normalitäten und Identitäten verlieren im globalisierten Kapitalismus ihre Passform und wir alle sehen uns mit der Erwartung konfrontiert, uns flexibel und offen auf veränderte Bedingungen einzulassen. Unsere Alltage werden riskanter und unvorhersehbarer, Gemeinsamkeiten scheinen weniger selbstverständlich. Identitäten und Zukunftsentwürfe werden brüchig, müssen immer wieder erarbeitet und neu ausgerichtet werden. Persönliche Lebenspläne, Vorstellungen von sich selbst und der eigenen Lebenswelt verlangen kontinuierliche Reflexion und Überprüfung. Soziale Zugehörigkeit und Anerkennung erfordern immer neue Anstrengungen der Ausbalancierung von Integration, Bezogenheit und Autonomie. Planungen finden in zunehmend unsicheren Planungsumfeldern statt. Entscheidungen müssen trotz fehlender Entscheidungsgrundlagen getroffen werden. Orientierung muss auch in zunehmender Unübersichtlichkeit stattfinden.
  • Gegenwärtig verändern sich unsere Informations- und Kommunikationsformen ebenfalls rasant. Neue Medien bestimmen unser Leben zunehmend. Lebenslanges Lernen wird ebenso erwartet wie die Fähigkeit, sich von vertrauten Routinen des Alltagslebens zu lösen. Wie immer diese Erwartungen bewertet werden mögen, sie können nicht ignoriert werden und stellen für die Menschen Herausforderungen dar, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen.
  • Auch alle Institutionen in Wirtschaft, Verwaltung und Sozialwesen stehen unter Modernisierungsdruck und müssen ihre organisatorischen Abläufe überdenken und neuen Effizienzanforderungen gerecht werden.

Diese aktuellen gesellschaftlichen Veränderungsdynamiken haben keine einfache Zielprogrammatik, auf die man sich durch gezielte Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen planmäßig einstellen könnte. Sie erfordern eine hohe und dauerhafte Reflexivität und sie erfordern Orte, an denen diese Reflexivität entwickelt werden kann. Hier ist der Ort für Beratung.

In der sozialberuflichen, psychosozialen und pädagogischen Praxis hat Beratung einen festen und mittlerweile gesetzlich verankerten Platz. Aber Beratung gerät vielerorts in Bewegung. In Praxis, Wissenschaft und Forschung, Aus- und Weiterbildung organisiert und sortiert sich ein traditionelles Arbeitsfeld neu.

Professionalisierungs- und Verrechtlichungsbestrebungen sind unübersehbar. Regulierungsbedarf der beruflichen Qualifizierung und der Berufsausübung von psychosozialen Berater und Beraterinnen wird postuliert. Sie sind aufgefordert, ihre Arbeit effizient zu gestalten und Qualität zu sichern. Institutionen, Berufs- und Interessenverbände definieren Beratung aus ihrer spezifischen Perspektive. Wissenschaftliche Disziplinen entwerfen ihren spezifischen Zugang zur Beratung.

Beratung verändert sich als professionelle Behandlungsform wie als theoretischer Entwurf.

In dieser Situation des Wandels entsteht neben neuen Horizonten die Gefahr kurzschlüssiger Festschreibungen traditioneller und vertrauter Konzepte, vorschneller und vornehmlich über partiale Marktinteressen geleiteter Regulierung ohne eine behutsam reflexive Fundierung des Feldes in Theorie und Praxis.
Die Chance im Wandel wäre schnell vertan, wenn sie nicht mit Blick auf eine inhaltlich gehaltvolle Debatte zwischen den Disziplinen, zwischen den Verbänden und zwischen den Konzepten genutzt würde.
Ein neuer Diskurs über Beratung kann hier seinen Ausgangspunkt nehmen. Professionelle psychosoziale Beratung braucht Wurzeln, Traditionen und Entwicklungen in verschiedenen sozial-, kultur-, erziehungs- und gesundheitswissenschaftlichen Disziplinen, die ihre Praxis in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen von Bildung und Beruf, Arbeit und Beschäftigung, Gesundheit und Pflege, Sozialisation und Resozialisation, Familie und Freizeit etc. anleiten können. Die Zukunft der Beratung muss sich auch in Deutschland auf Brückenschlägen zwischen den innovativen Perspektiven unterschiedlicher Leitwissenschaften aufbauen, um ein neues, der Zeit angemessenes Beratungsverständnis zu schaffen - sowohl in den einzelnen beraterischen Berufsgruppen mit ihren spezifischen Zugängen wie als integrierender Schirm über die Beratungslandschaft.

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Wie kann die Zukunftsfähigkeit von Beratung gesichert werden?


Ausgangspunkt des neuen Diskurses ist eine Perspektive, die Beratung mit Blick auf aktuelle und absehbare gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen neu fasst.

  • Bisherige Thematisierungen von Beratung erschöpfen sich weitgehend in einzelnen disziplinspezifischen oder handlungsfeldorientierten Positionierungen. Die neuen Anforderungen an Beratung erfordern aber eine Prüfung, ob herkömmliche (z. B. klinisch psychotherapeutische) Beratungskonzepte und Beratungspraxen allein in der Lage sein werden, Perspektiven für ein notwendig neues, eigenständiges und zukunftsorientiertes Wissenschafts- und Professionsprofil von Beratung zu liefern. Ein neuer Diskurs muss somit die bestehenden Debatten vernetzen und dazu beitragen, für Beratung eine reflektierte, planvolle und kontrollierte Interdisziplinarität zu entwickeln, in die spezifische Zugänge der einzelnen Wissenschaften integrativ und gleichberechtigt einfließen können.
  • Eine weitestgehende Vielfalt von Beratungsangeboten, sie sich lebensweltnah und alltagssensibel den unterschiedlichen Anforderungen, Problemlagen und Unterstützungsbedürfnissen unterschiedlichster Nutzer- und Betroffenengruppen annimmt, muss etabliert, gefördert und gesichert werden. Hierzu bedarf es klarer Kriterien, die die professionelle Qualität von Beratung als ein "plurale" Qualität erhalten und einengenden wie ausgrenzenden professionellen Zuständigkeitsansprüchen eine ebenso deutliche Absage erteilen wie einer marktfähigen Beliebigkeit, mit der alles und jedes als "Beratung" bezeichnet wird.
  • Qualität von Beratung muss gesichert bleiben. Handlungsmaximen sind zu entwickeln, die für Beratung profilbildend sind und ihre Qualität sichern. Zu diesen Maximen gehören Alltags- und Lebensweltorientierung, Ressourcenbezug ebenso wie Prävention und Nutzerempowerment. Diese Rahmenkonzepte sind je nach Gegenstandsbereich und Anlass in sozialen, ökologischen und kulturellen Kontexten zu realisieren. Beratung muss hier geschlechter-, alters- und kulturspezifische Hilfemodelle entwickeln und sieht sich verpflichtet zum Abbau sozialer Ungleichheit beizutragen.
  • Beratung braucht Vertrauen in Beratung - bei Ratsuchenden wie bei Anbietern. Expertenwissen und alltägliches Handlungswissen werden immer schwerer vermittelbar. Ein neues Verständnis von Beratung kaschiert dieses Problem nicht, sondern sieht die Notwendigkeit, Expertenwissen und Vertrauen mit ihren Einschränkungen erkennbar werden zu lassen. Beratung wird dadurch dialogischer, anerkennt den Konsens wie den Dissens und bleibt so ein Aufklärungs- und Bildungsprozess für BeraterInnen und RatsucherInnen.
  • Ein neues Professionsverständnis von Beratung muss berücksichtigen, dass Klientinnen und Klienten (wie Beraterinnen und Berater) heute lernen müssen, vermehrt mit Unsicherheit, Unvorhersagbarkeit, Nichtwissen, Vieldeutigkeit und Paradoxien umzugehen. Bisher selbstverständliche Vorhersagbarkeit, Planbarkeit und Eindeutigkeit sind nicht mehr garantiert. Beratung braucht theoretische Entwürfe wie praktische Handlungsmodelle der Sicherung persönlicher Identität in sozialer Integration angesichts zunehmender Ungewissheit und Verunsicherung.
  • Neue Informations- und Kommunikationsmedien finden zunehmend Eingang in den privaten und beruflichen Alltag. Sie verändern Formen der Kommunikation, Interaktion und Wissensorganisation. Sie machen weite Teile des Beratungsklientels informierter. Diesen Personenkreis muss aufgrund der Informationsfülle ein attraktives Angebot zur Informationsbegründung, -verantwortung und -balance gemacht werden. Informations- und Kommunikationsmedien grenzen aber auch diejenigen aus, die nicht über Zugänge zu den Medien verfügen. Beratung muss hier der Überwindung von Informationsbarrieren und von Informationsarmut dienen.
    Neue mediengestützte Formen der Beratung(Internetberatung) werden die Beratungslandschaft verändern, neue Angebotsformen hervorbringen, aber auch herkömmliche Beratungs-Settings eine neue Bedeutung verleihen.

Eine Beratung, die sich diesen kulturell und gesellschaftlich neuen Herausforderungen stellen will, braucht ein eigenständiges professionelles Profil ebenso wie einen eigenständigen facettenreichen Diskurs ihrer Konzepte und Handlungsformen.

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An wen richtet sich der Neue Beratungsdiskurs?


Angesprochen sind alle diejenigen, die sich mit Beratung in Theorie und Praxis beruflich oder in Aus- und Weiterbildung beschäftigen, Berufspraktiker und -praktikerinnen, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, Berufsgruppen und Berufsverbände, Träger von Beratungsangeboten und Beratungseinrichtungen sowie Vertretungen von Ziel- und Nutzergruppen. Hierzu gehören insbesondere die sozial- und gesundheitsberuflichen, schulischen und berufsbezogenen Arbeitsbereiche, aber ebenso alle diejenigen, in deren Tätigkeit Beratungshandeln einen zentralen Platz einnimmt. Der neue Diskurs über Beratung ist arbeitsfeldübergreifend und soll vernetzen. Heterogenität in den Beratungsfeldern, Herangehensweisen und Konzepten wird favorisiert, um Beratung in ihrer bereits existierenden Vielfalt bekannt, transparent und nutzbar zu machen. Gemeinsamkeiten und Differenzen, Schnittflächen und Gegensätze zu identifizieren, voneinander zu lernen und gemeinsam ein zukunftsweisendes Reflexions- und Handlungsprofil zu erarbeiten, ist das Ziel.

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Wie können Sie an diesem Neuen Diskurs teilhaben?


Das Forum Beratung versteht die Frankfurter Erklärung als einen ersten Impuls. Diskutieren Sie die Erklärung im Kreis ihrer Kolleginnen und Kollegen und geben Sie uns Rückmeldung über ihre Einschätzung, Kritik und Anregungen.

  • Das Forum Beratung bietet Ihnen eine Vielzahl von Möglichkeiten aktiver Beteiligung an der Weiterentwicklung des Neuen Diskurses über Beratung in Deutschland.
  • Die Möglichkeit, sich mit eigenen Beiträgen an den Beratungsveranstaltungen (Symposien, Workshops, etc.) des 15. Kongresses für klinische Psychologie, Psychotherapie und Beratung in Berlin 2010 zu beteiligen (Informationsmaterial über die DGVT Bundesgeschäftsstelle, Kongressreferat, Postfach 1343, 72003 Tübingen - oder im Internet unter www.dgvt.de
  • Ein "Netzwerk Beratung in Forschung und Lehre" an Fachhochschulen und Hochschulen (Kontakt: Prof. Dr. Frank Nestmann, TU Dresden, Fakultät für Erziehungswissenschaften, 01062 Dresden)
  • Publikationsmöglichkeiten in der Reihe "Beratung" im DGVT-Verlag (Anschrift: DGVT-Verlag, Sudhaus, Hechinger Str. 203, 72070 Tübingen

Forum Beratung, Frankfurt, den 1.1.2001, 2. Aktualisierung im August 2008

Gerd Brückner, Frank Engel, Martina Georg, Heiner Keupp, Hubert Kötter (†), Albert Lenz, Frank Nestmann, Ingeborg Schürmann, Irmgard Vogt

Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie

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