Zweite Frankfurter Erklärung zur Beratung Januar 2012

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  1. Beratung braucht die Freiheit der Wahl
  2. Beratung ist keine Ware
  3. Beratung wird zur Navigation durch ein unüberschaubares Angebot an Informationen, Auskünften und Ratschlägen
  4. Beratung verfügt im Internet über neue Settings
  5. Beratung lässt sich nicht mehr in der Selbstverständlichkeit „alter“ Beratungsschulen fassen
  6. Beratung lässt sich nicht nach dem Muster des Psychotherapeutengesetzes professionalisieren
  7. Beratung muss sich in jedem Arbeitsfeld kontinuierlich mit Fragen von Diversity auseinandersetzen
  8. Beratung lässt sich nicht eindimensional nach Effizienzkriterien evaluieren
  9. Beratungsqualität wird auch durch Beratungsforschung garantiert

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Das Forum Beratung in der DGVT hat vor zehn Jahren in seiner ERSTEN FRANKFURTER ERKLÄRUNG (www.forum-beratung-dgvt.de) die Frage nach der Zukunftsfähigkeit von Beratung gestellt und zu einem Neuen Diskurs über Beratung aufgerufen. Eine Dekade später ziehen wir im Forum Beratung Bilanz und werfen den Blick auf aktuelle Beratungsfragen, die zu beantworten sind. Ziel ist es, erneut die Diskussion über Beratung unter PraktikerInnen wie WissenschaftlerInnen anzuregen. Wir wünschen uns eine Debatte auch kontroverser Art und: Wir positionieren uns.

Eine Welt im Wandel braucht Beratung,
aber eine Beratung, die diesem Wandel Rechnung trägt!

Dieses Leitmotto der ERSTEN FRANKFURTER ERKLÄRUNG gilt uneingeschränkt auch heute. Die gesellschaftlich-kulturellen Bedingungen professioneller Beratung haben sich in den letzten zehn Jahren nicht grundlegend verändert. Beratung ist allerdings eigenständiger geworden und erhält mittlerweile größere öffentliche Aufmerksamkeit: Der fachliche Diskurs ist um eine Vielzahl einschlägiger Publikationen bereichert worden, Beratung wird mehr und mehr an Hochschulen gelehrt und beratungspolitische Positionen haben in neuen Beratungsverbänden einen Ort gefunden.

Auch in Online-Medien hat sich in den letzten zehn Jahren Beratung zu einem festen Angebot entwickelt. Hier entstand ein eigenständiger Beratungs- und Informationsbereich, den es in dieser Form zuvor nicht gab und der mit seinen Neuentwicklungen Beratung  - online wie offline - auch zukünftig beeinflussen wird.

Aber auch unser Alltag bleibt weiterhin von Beratungsangeboten durchzogen: von guten wie schlechten – und das zu Fragen, auf die wir alle immer wieder zufriedenstellende und zumindest vorübergehend handlungsanleitende Antworten finden müssen. Dabei ist auch Beratung Veränderungen unterworfen, Angebotsformen, Inhalte, institutionelle Einbindungen sowie gesellschaftliche Anforderungen und Aufgaben verändern sich. Jeder Beratungsprozess ist in das strukturelle Spannungsverhältnis von Entscheidungsoptionen und Entscheidungszwängen eingebunden. So „produziert“ die Informations- und Wissensakzentuierung unserer Gesellschaft auf ihrer Kehrseite weiterhin Nichtwissen, Unsicherheit, Infragestellungen bis hin zur Orientierungslosigkeit. Dies hat Folgen für die Beratung. Oft verspricht man sich von einfachen Ratschlägen schnelle Lösungen oder suggeriert Entscheidungssicherheit dort, wo ein Innehalten, Reflektieren und Abwägen angebracht wäre. Oft wird Beratung als forcierte Entscheidungsfindung, als Expertise, als schnelle Lösung ins Spiel gebracht, ohne dass Folgen und Nebenfolgen durchdacht würden. Beratung, die sich als kommerzielles Produkt zur Lösung von Orientierungs-, Entscheidungs- und Planungsfragen anbietet, unterliegt der Gefahr, sich von ihrer helfenden, problemlösenden Orientierung zu verabschieden.

Unser erstes Fazit lautet also:

Beratung war in unserem Alltag sowie wissenschaftlich und verbandspolitisch noch nie so gegenwärtig und vielfältig wie heute – aber auch noch nie so gefährdet, profillos zu werden.

Ein ausdifferenziertes Beratungsangebot hat ohne Zweifel große Vorteile für uns alle, aber es gibt auch nicht zu übersehende Schattenseiten. Die Gefahr ist groß, dass Beratung in der Vervielfältigung ihr Profil verliert und zu einer inhaltsleeren Bezeichnung für sehr Unterschiedliches wird. Beratung, die in diesem Sinne ihren „Kern“ verliert, wäre eine Gefahr für sämtliche professionelle Beratungsangebote (auch online-basierte), die mit hohem Qualitätsstandard in sozialen, psychosozialen, pädagogischen, bildungsorientierten und gesundheitsbezogenen Handlungsfeldern etabliert worden sind.

Andererseits liegt in der  zurzeit stattfindenden Öffnung und Erweiterung der Anwendungsfelder von Beratung auch eine Chance zur Veränderung, Neuentwicklung und zeitgemäßer Anpassung. So müssen wir uns fragen, ob unsere „alten“ Konzepte und Sichtweisen noch tragfähig sind, ob sie für alle Felder, in denen Beratung praktiziert wird, in gleicher Weise gelten, ob wir an manchen Stellen nicht mit Begrifflichkeiten arbeiten, die vielleicht ihre Bedeutung verloren haben oder heute inhaltlich neu gefasst oder präzisiert werden müssen.

Wo besteht die Gefahr, dass Beratung ihre (gut begründete) Bedeutung verliert und wo gilt es neue Kriterien und Konzepte zu entwickeln?

Es lassen sich aus unserer Perspektive neun Bereiche benennen, die aktuell und zukünftig kritischer Aufmerksamkeit bedürfen.

1. Beratung braucht die Freiheit der Wahl

Gerade der Erfolg, den die Interventionsform Beratung in den vergangenen 30 Jahren erlebt hat, führt dazu, dass sie heute auch in solchen Bereichen des Sozial-, Erziehungs-, Bildungs- und Gesundheitswesens anzutreffen ist, die über ein hohes Maß an administrativer Macht verfügen und in denen häufig ein nahezu übergangsloser Wechsel von Kommunikationen mit sanktionierendem Charakter zu „Beratung“ stattfindet. Einer der im Fachdiskurs immer wieder hervorgehobenen grundlegenden Standards, die „Freiwilligkeit“ von Beratung, steht damit in Frage, sind doch Sanktionen zu erwarten, wenn gesellschaftlich unerwünschte oder vom Organisations- oder Trägerinteresse abweichende Entscheidungen getroffen werden. Das Beratungsgespräch unterliegt damit Zwängen, die für diejenigen, die hier beraten werden, von existenzieller Bedeutung sein können.

Direkt als “Zwangsberatung” bezeichnet werden inzwischen solche Beratungsgespräche, die zwar allen Kriterien eines Beratungsprozesses entsprechen sollen – Ergebnisoffenheit, Einbeziehung der emotional-affektiven Anteile, Lebensweltorientierung –, aber wie in der Schwangerschaftskonfliktberatung, der Studienberatung zur Sicherung der Regelstudienzeit oder bei Beratungen nach dem ALG II durch gesetzlichen Zwang zustande kommen. Die damit verbundene Problematik bleibt heute allerdings nicht auf diese institutionellen Kontexte beschränkt, solche „Zwangsberatungen“ kommen mehr oder weniger explizit auch in anderen Bereichen vor.

Hält man am definierten Ziel von Beratungskommunikation fest, nämlich ein psychosozial, kommunikativ und in der Sache angemessenes Angebot zu sein, das den Klienten und Klientinnen eine Neuorientierung bei persönlichen Konflikten, Irritationen und Entwicklungswünschen bietet, dann sind Zwangskontexte Hindernisse für das Beraten. Nur unter der Voraussetzung, dass Beratung ergebnisoffen den Orientierungsbedürfnissen und den Entscheidungsanstrengungen der Ratsuchenden folgt und ohne Sanktionsdruck auskommt, kann eine vertrauensvolle Beratungsbeziehung entstehen, die auf Seiten der Beratenden Einfühlung und Verstehen und auf Seiten der Klientinnen und Klienten Offenheit für Anregungen, Informationen, Konfrontation und emotionale Berührbarkeit freisetzt.

Die komplexer gewordenen Fragen hinsichtlich der Bedeutung innerer und äußerer Zwänge sind mit dem Kriterium „Freiwilligkeit“ zwar nach wie vor gemeint, nicht aber ausreichend bestimmt oder geklärt. Ein Beratungslabel, was hier fälschlicherweise Wahlmöglichkeiten signalisiert, enthebt TheoretikerInnen und PraktikerInnen nicht, andere angemessene Unterstützungsformen für Menschen in Zwangskontexten zu entwickeln. Es gilt daher die Rahmenbedingungen für Beratung mit Blick auf alte wie neue Zwangskontexte zu diskutieren und die methodisch-fachlichen Spezifika von Beratung unter negativem wie positivem Sanktionsdruck herauszuarbeiten.

Gespräche allerdings, die als Beratung auftreten, aber verdeckte Lenkung sind, sind explizit zu kritisieren und – orientiert an den Standards fachlicher Beratung – deutlich zurückzuweisen. Herauszuarbeiten, welche Bedingungen kein gutes Terrain für Beratung sind, heißt deshalb nicht, dass in Zwangskontexten gar nicht gehandelt werden soll. Es wird damit vielmehr die Frage aufgeworfen, welche qualifizierte Form der Intervention erfolgen kann und sollte, wenn die Voraussetzungen für Beratung nicht gegeben sind. Für Beratung aber bleiben Wahlfreiheit und Freiwilligkeit  methodisches Postulat, auch wenn sie kein empirisches Faktum sind.

2. Beratung ist keine Ware

Die Privatisierung öffentlich finanzierter sozialer Dienste schreitet voran. Private Anbieter erobern damit auch Beratungsmärkte. Unter konzeptionellen Gesichtspunkten muss das nicht grundlegend zu einer Verschlechterung von Beratungsangeboten führen, solange fachliche wie ethische Standards eingehalten werden. Problematisch wird es jedoch, wenn unter privatisierten Bedingungen Beratung nicht nur per Honorar abgerechnet, sondern warenförmig als Produkt angeboten wird, das gewinnorientiert angepriesen wird und als etwas passiv zu Konsumierendes erscheint. ‘Commodification’ beschreibt die mit der Vermarktung eines Produkts einhergehenden Veränderungen, die auch in der Beratung beobachtbar sind. Beratung ist bereits an vielen Stellen zu einer Ware geworden, die in Konkurrenz zu anderen Anbietern und Produkten angeboten und von Beratungs-“Kunden” konsumiert werden soll. Nicht nur die Unternehmensberatung, auch andere Beratungen werden beworben, Kunden werden akquiriert, Berater und Beraterinnen inszenieren sich als kompetente Serviceleister, Erfolgsversprechen werden gegeben, Beratungsqualität wird durch effektheischende Fassaden ersetzt. Kritische Perspektiven werden ausgeblendet, sollten sie potentiell geschäftsschädigend sein.

Für Beratung als fachlich hochwertiges und wissenschaftseingebundenes Angebot in öffentlicher und freier Trägerschaft, entstanden aus einer Vielzahl auch gesellschafts- und konsumkritischer Bewegungen sowie aus humanistisch gemeinwohlorientierten Hilfeperspektiven, besteht mit dem Übergang in privatwirtschaftliche gewinnorientierte Angebote die Gefahr, in der inhaltlich-fachlichen Ausrichtung oberflächenattraktiv zu verflachen.

Steht Beratung nur noch als marktgängiges und gewinnorientiertes Produkt im Vordergrund, spielen Klienten und Klientinnen in ihren pluralen Lebenswelten nur noch eine „Abnehmer“-Rolle und Berater und Beraterinnen werden zu VerkäuferInnen. Beispiele derartiger Entwicklungen lassen sich in unterschiedlichen Bereichen vom Finanzsektor über das Bildungswesen bis in das Gesundheitswesen  finden.  Beratung muss sich hier widerständig zeigen. Sie folgt den Interessen der Ratsuchenden, bleibt im Rahmen ihrer Fachlichkeit grundlegend klientel-, subjekt- sowie empowerment-orientiert, ob in privater oder öffentlicher Trägerschaft, und ist kein reduziertes Billigprodukt in ausschließlich betriebswirtschaftlicher Logik. Letztlich sind Beratungs- wie Bildungsangebote ein gesellschaftlich-kulturelles Gut.

3. Beratung wird zur Navigation durch ein unüberschaubares Angebot an Informationen, Auskünften und Ratschlägen

Nahezu jegliche Information ist Dank des Internets nun jederzeit, von jedem Ort und für jeden und jede abrufbar. Die Generation der Smartphones ermöglicht es den BenutzerInnen mit nur ein paar Fingertipps Artikel zu einzelnen Themen aufzurufen oder sogar ganze Bücher herunter zu laden. Die einfache Erreichbarkeit von und die Fülle an Informationen führt aber nicht immer zu einer präziseren Informationen und zu besserer Informiertheit. Klienten, Klientinnen  und Berater wie Beraterinnen sind dieser Informationsflut ausgesetzt und nicht immer in der Lage, wichtige Angaben heraus zu filtern und das, was ihnen begegnet, zuverlässig zu bewerten. Verbesserter Informationszugang führt nicht unbedingt zu verbesserter Informiertheit.

Ratsuchende kommen heute oft vorinformiert zur Beratung mit dem Wunsch nach Hilfe beim Umgang mit vieldeutigen oder ihnen fraglich erscheinenden Auskünften. Beratung wird verstärkt zur Informationsarbeit mit dem Ziel, die (nicht nur im Internet) ort- und kontextlosen Informationen in lebensweltnahes und handlungsrelevantes Wissen zu transformieren.

Es geht nicht nur um die Frage nach dem Was –  welche Information lässt sich nutzen und welche nicht. Ebenso wichtig ist die Reflexion über das Wie, das Wann und das Wieviel. Es gilt aufmerksam dafür zu sein, wie sicher eine Information erscheint. Hat sie den Status einer Vermutung oder wird eine Tatsache mitgeteilt? Wird sie als eine Option unter vielen oder als einzig relevante präsentiert?

KlientInnenzentrierung im Umgang mit Informationen heißt auch zu prüfen, ob gerade jetzt der richtige Moment ist, um Informationen weiter zu geben. Können noch weitere Informationen verkraftet werden, ist der Klient oder die Klientin am Rande ihrer Aufnahmefähigkeit? Steht vielleicht eher eine eigenständige Suche bzw. die Vermittlung von Recherchekompetenz an? Vertrauen in Beratung fordert einen reflexiven Umgang mit Information und einen sensiblen Umgang mit Informationsverarbeitung.

4. Beratung verfügt im Internet über neue Settings

Die Beratungsangebote im Internet sind in den vergangen Jahren zu einem eigenständigen und selbstverständlichen Teil der aktuellen Beratungslandschaft geworden. Vom datenbezogenen Informieren über das soziale Vernetzen bis hin zu professionellen medialen Beratungssettings lässt sich an allem teilnehmen - sei es mit Informations- oder Beratungsabsicht oder mit dem Wunsch nach Unterhaltung.

Beratung ist längst vollständig im Internet angekommen: Im „web1.0“ hat sie als professionelle Form ihren festen, verlässlichen und vielfach institutionsangebundenen Ort gefunden und im „web2.0“ sind im Sinne einer „Beratung 2.0“ alltagsnahe Beratungsformen, welcher Ausprägung auch immer, denkbar (sei es als: Beratungsblogs, Beratungswikis, Beratungsnetzwerke etc.). Nicht nur die professionelle Beratung, auch die Alltagsberatung hat eine neue mediale Form gefunden.

Die Online-Beratung hat innerhalb kurzer Zeit neben der fachlichen Praxis einen eigenständigen wissenschaftlich-interdisziplinären Diskurs hervorgebracht. Beratung wird dadurch vielfältiger, mobiler und flexibler; sie wird aber auch in Form und Inhalt missbräuchlich verwendbar. Es scheint eine besondere Qualität  deutschsprachiger Online-Angebote zu sein, dass sie von der Qualität eines umfangreichen Angebotes institutionalisierter Beratungsanbieter in öffentlicher und freier Trägerschaft profitieren können. Diese haben ihre traditionellen Beratungsangebote häufig um Online-Varianten erweitert und damit für ein verlässliches und qualitativ ausgewiesenes Angebot gesorgt. Transparenz, Vertraulichkeit, Sicherheit und fachliche Kompetenz sind hier weiterhin die Grundlage für ein Beratungsangebot, dem Nutzerinnen und Nutzer vertrauen können. Dies gilt jedoch nicht für alles, was im Internet als Beratung auftritt. In medialen sozialen Netzwerken ohne eine solche institutionelle Anbindung findet nicht nur Alltagsberatung in medialer Form statt, häufig werden verdeckt kommerzielle Zwecke verfolgt und es finden subtile Formen des informationellen Missbrauchs statt. 

5. Beratung lässt sich nicht mehr in der Selbstverständlichkeit „alter“ Beratungsschulen fassen

Mit schnellen und radikalen gesellschaftlichen Veränderungen und oft vieldeutigen Informationen, die wir alle zu verarbeiten haben, wachsen auch die Schwierigkeiten der Orientierung, der Vorhersage und des Planens; über mehr Informationen zu verfügen erleichtert Entscheidungen nicht unbedingt. Gleichzeitig delegieren die öffentlichen Systeme und Instanzen zunehmend viele riskante Orientierungs-, Planungs- und Entscheidungsaufgaben an die Individuen und ziehen sich aus ihrer sozialen Sicherungsverantwortung zurück. Beratungsangebote sollen den und die Einzelne dann in allen Lebensbereichen flankieren und bei diesen Aufgaben unterstützen. Wo Ratsuchende sich verstärkt in ambivalenten und paradoxen Anforderungen wiederfinden und wo ihre Prognosefähigkeit, wenn überhaupt vorhanden, dann nur noch auf kurze Sicht gewährleistet ist, geraten manche der herkömmlichen Beratungskonzepte an ihre Grenzen. Insbesondere individuenzentrierte, rationalistische Beratungsmodelle in offenbar „sachlichen“ Feldern (wie beruflicher Beratung, Patientenberatung, Organisationsberatung etc.), die auf stringente, nüchterne und autonome Entscheidungs- und Planungskompetenz setzen, bedürfen einer grundlegenden Revision. Beratung hat immer und überall eine Integration von Intuition und Kreativität in Entscheidungs-, Planungs- und Handlungshilfen zu gewährleisten und immer und überall die Einbindung dieser individuellen Prozesse in persönliche Beziehungen und soziale Netzwerke zu reflektieren.

Die Beratungswissenschaft ist damit aufgefordert, neue und alternative Theorien und Praxen zu entwickeln: Benötigt werden Konzepte, die zum einen Identität in sozialer Integration sichern helfen sowie persönliche und soziale Empowerment-Prozesse unterstützen, und die zum anderen einen positiven Umgang mit Ungewissheit und Nichtsicherheit fördern. Beratung kann und  muss  Intuition und Emotion neben Rationalität aufgreifen und  Kohärenzsinn wie Bewältigungsoptimismus auch in ambivalenten und widersprüchlichen Anforderungen stärken. Sozialkonstruktionistische Ansätze und Beratungsmodelle der „Positiven Nichtsicherheit“, des „Geplanten Zufallereignisses“ und eines „erfahrungsgeleiteten Spürsinns“ bieten hier neue theoretische und praktische Perspektiven. Ratsuchende werden als „selbstwirksame“ Konstrukteure ihrer Welt  dabei unterstützt, persönliche Identitäten in sozialer Gemeinschaft zu entwickeln und  zu (Mit-)Gestaltern und selbstbewussten Akteuren ihrer Lebensgeschichte und Zukunft zu werden.

6. Beratung lässt sich nicht nach dem Muster des Psychotherapeutengesetzes professionalisieren

Das Psychotherapeutengesetz ist kein Vorbild für eine weitere formale und justiziable Regelung der Ausübung von Beratung. Zum einen wird Beratung weder in nur einem gesellschaftlichen Feld ausgeübt, noch lässt sich eine einheitliche Zielkategorie angeben – anders als „Heilen“ hat „Orientieren“ unterschiedliche Themenfelder/Lebensbereiche zum Gegenstand. Zum anderen haben sich mit dem Psychotherapeutengesetz ambivalente inhaltliche, professionelle und ökonomische Folgen ergeben, die für den Bereich der Beratung nicht wiederholt werden sollten (enge Beschränkung auf nur wenige Zugangsdisziplinen und Verfahren, Verhaftung  im medizinischen Modell der Behandlung und Heilung, Etablierung von immer mehr Einzelpraxen bei gleichzeitig steigenden Wartezeiten, geringe Einbindung in Prävention, Kooperation und Krisenhilfe etc.).

Solche Bemühungen zu einer strengeren formalen oder standespolitischen Eingrenzung der Beratung tragen außerdem nicht unbedingt zu einer Qualitätsverbesserung bei, wenn damit primär Domänen und Claims für Verbände und Ausbildungsanbieter abgesteckt werden. Sie erleichtern auch nicht den Zugang zu und die Verfügbarkeit von Beratungsangeboten gerade für besonders unterstützungsbedürftige oder  benachteiligte Bevölkerungsgruppen. Obendrein entwerten sie die vielfachen informellen und semiprofessionellen Beratungsangebote, die in den unterschiedlichsten Alltagssettings von hoher Bedeutung sind.

Beratungsqualität und -kompetenz entsteht weniger durch formalisierte Regulierungen und Zertifizierungen, wer, wen, wie und mit welcher Zusatzausbildung beraten darf. Wichtiger sind: Wissenschafts- und forschungsbasierte Bemühungen um eine qualifizierte Vermittlung von Beratungswissen und Beratungskompetenzen in einschlägigen Studiengängen und Weiterbildungen, eine stärkere Lebenswelt- und Ressourcenorientierung  bestehender Beratungsangebote, eine stärkere Vernetzung von Beratung mit alltäglicher und organisierter Hilfe und Selbsthilfe sowie bürgerschaftlichem Engagement. Hierzu gehört es auch, Beratung in gering und  nicht formalisierten Alltagssettings zu würdigen und auszubauen.

7. Beratung muss sich in jedem Arbeitsfeld kontinuierlich mit Fragen von Diversity auseinandersetzen

Obwohl Beratung als professionelle Interventionsform grundsätzlich ergebnisoffen, klientenzentriert und lebensweltbezogen konzipiert ist, führen regionale Bedingungen sowie die Notwendigkeit in den Einrichtungen und den Ausbildungsgängen Strukturen zu schaffen doch immer wieder zu Verengung der Perspektive. Ein bestimmtes Spektrum von Anliegen wird zum zentralen Thema, Diagnosen und Fallverstehen konstruieren Typen von KlientInnen. Der Diversität von Themen, Problemlagen und Beratungsanliegen, die durch gesellschaftliche Ausdifferenzierung und Entwicklungen entstehen, wird man damit nicht gerecht.

In welchen Sprachen sollte man ein Beratungsangebot bekannt machen und praktizieren? Welche Informationspools sind vorzuhalten? Sollten neue Arbeitsformen erprobt werden bzw. Angebote für bestimmte Klientelgruppen gemacht werden? Muss die Niederschwelligkeit der Beratung neu durchdacht werden? Ist das Beratungsangebot in der jetzigen Form wirklich offen für MigrantInnen, Schwule, Lesben, Transgender, Junge und Alte, Menschen mit illegalem Aufenthalt oder/ und in besonderen Armutslagen …? Fragen wie diese sind nicht konzeptionelle Fragen für Spezialeinrichtungen, sondern kontinuierliche Begleitung jeder professionellen Beratungspraxis.

8. Beratung lässt sich nicht eindimensional nach Effizienzkriterien evaluieren

Die Ressourcenknappheit der öffentlich finanzierten sozialen Dienste und  Privatisierungstendenzen bei den entsprechenden „Dienstleistungen“ haben zu einer neuen Schärfe in der Frage der Erfolgskontrolle von Beratung geführt. Die positive Wirkung von Beratung in Erziehung, Bildung, psychosozialer Arbeit und Gesundheitswesen soll – so die Forderung vieler Träger –  nachgewiesen werden. Sorgfalt im Umgang mit öffentlichen Ressourcen und den Nachweis ihrer erfolgreichen Verwendung zu fordern, ist keineswegs unbillig. Ein schlichter fallbezogener Erfolgsnachweis jedoch ist für die zumeist komplexen Beratungsprozesse nicht möglich. Die Bedeutung der Hilfeform Beratung liegt (in Abgrenzung von Information, Anleitung oder Unterricht) gerade im Sich- Einlassen auf die individuellen Ziele, Werthaltungen und emotionalen Verarbeitungsformen ihrer jeweiligen Klienten und Klientinnen.

Offenheit von Beratung ist dabei eine Voraussetzung dafür, dass Ziele wie das Erschließen persönlicher Ressourcen und das Erweitern individueller Handlungsspielräume erreicht werden können – eine operationalisierte Messung von vorgegebenen zu erreichenden Zielen zu fixen Zeitpunkten ist deshalb inadäquat. Die für Beratung grundlegende Zusicherung der Vertraulichkeit aller mitgeteilten Inhalte macht diese Evaluationsform zusätzlich problematisch. Gerade gegenüber Arbeits-, Sozial- und Gesundheitsverwaltung sowie gegenüber Trägern mit übergreifendem Leistungsprofil (die an dem Effizienznachweis in erster Linie interessiert sind) ist die Gewährleistung des Vertrauensschutzes besonders wichtig.

Wir sind der Meinung, dass  Beratung angemessene Verfahren der Wirksamkeitsprüfung und  Evaluation erfordert: Tätigkeitsberichte (Fallzahlen und exemplarische Fallskizzen) belegen Arbeitsweise und -umfang der einzelnen Einrichtung. Beratungsspezifische Qualitätssicherungsmaßnahmen (Fallkonferenzen, Fortbildung und Supervision) sorgen für deren Entwicklungsfähigkeit. Fachkundig begleitete Evaluationsverfahren prüfen Wahrnehmung, Akzeptanz und Bewertung von Beratungsprozessen und gewährleisten NutzerInnenpartizipation. Unabhängige Wirkungsforschung analysiert Rahmenbedingungen, Konzepte, Methoden von Beratung sowie Merkmale von BeraterInnenverhalten und kontextbezogene Studien erheben den Einfluss von Beratungsangeboten auf umgebende Kulturen und Milieus  und decken auch  nichtintendierte Effekte oder „Beratungsschäden“ auf.

9. Beratungsqualität wird auch durch Beratungsforschung garantiert

Beratungsforschung ist Beratungsforschung - keine Therapieforschung. Es gilt, sie als eigenständige Forschungsrichtung weiterzuentwickeln - jenseits eines Alleinvertretungsanspruches des experimentell-statistischen Paradigmas und nicht fokussiert auf eine Liste modularisierter Interventionen. Methoden der Beratung sind keine Medikamente und Beratung ist keine Medikamentenvergabe.

Forschung im Feld der Beratung geht davon aus, dass quantitative und qualitative Forschungsanlagen und -verfahren, rekonstruktive und narrative Ansätze, Praxisevaluationen und Feldstudien zentrale Forschungsdesiderate sind. Nicht allein Hypothesentestung steht im Mittelpunkt, sondern explorative Studien und eine empirische Fundierung der Theoriebildung sind unverzichtbar. Zentral ist, dass das Verhältnis von Forschung zu Praxis nicht als ein anleitendes oder vorschreibendes zu begreifen ist, vielmehr die Forschung die Praxis anregt und mit ihr in einen Dialog tritt (z. B. in Handlungsforschungsprojekten).

Die Potentiale zur Förderung von Ressourcen und Gesundheit liegen im Mittelpunkt des Interesses, stärker als die Reduzierung von Defiziten und Störungen. Multiperspektivität, Interdisziplinarität und Multiprofessionalität, Freiwilligkeit und Ergebnisoffenheit, Vertraulichkeit und Kostenfreiheit sind wesentliche Merkmale von Beratung. Diese Kontexte, sowie diese Beratungsdimensionen sind auch für die Beratungsforschung zentral. Partizipative Forschung als Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven und Relevanzen aller beteiligten AkteurInnen muss Eingang in den Forschungsalltag finden. Diversity wird nicht als Störungsvariable in Untersuchungen behandelt, sondern als ein Wert in sich und eines der wichtigsten aktuellen Forschungsanliegen. Outcome-Kriterium wird nicht allein die höhere „Effizienz“ von Beratungsangeboten im Sinne eines „In-Schach-Haltens“ sozialer Probleme sein, sondern primär Bedeutungen und Nutzen für Klienten und Klientinnen. Forschung zur Legitimation ist nicht die Zukunft von Beratungsforschung.

 

Wie können Sie an der weiteren beratungspolitischen Diskussion teilhaben?

Wir verstehen auch diese ZWEITE FRANKFURTER ERKLÄRUNG als einen Impuls zur Anregung von Diskussionen im Kreis von Kolleginnen und Kollegen. Wir haben die für uns aktuell bedeutsamen Eckpunkte formuliert, vielleicht sehen Sie vieles ähnlich oder aber auch ganz anders. Lassen Sie uns darüber diskutieren und damit weiterhin die Qualität von Beratung sichern und verbessern.

 

Für das Forum Beratung in der DGVT, Frankfurt, im Januar 2012:

Vera Bamler, Frank Engel, Ruth Großmaß, Albert Lenz, Frank Nestmann,  Ingeborg Schürmann, Ursel Sickendiek, Jillian Werner, Daniel Wilhelm
 

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